Wie klar redet Gott in der Bibel?

Der grosse Althistoriker Paul Veyne (1930*) widmet in seiner so unterhaltsamen und wie lehrreichen Autobiographie (Et dans l’éternité je ne m’ennuierai pas, 2014) ein ganzes Kapitel der Religion. Darin stellt er bedauernd fest, dass im katholischen Christentum die geoffenbarte Wahrheit etwas gänzlich Klares und Starres sei: «Malheureusement, il est impossible de changer un mot à une Vérité révélée.“ Deshalb müsse man sich schon fragen, wie katholische Intellektuelle überhaupt gläubig sein könnten, ohne zumindest unbewusst zu einer verwässerten Privatreligion Zuflucht zu nehmen (101f).

Das Erstaunliche an dieser Überlegung ist, dass sie zeigt, wie plump und phantasielos sogar ein hochgebildeter, kritischer und kreativer Denker wird, wenn er vor einer „heiligen Schrift“ steht und sie als „geoffenbartes Wort Gottes“ verstehen müsste. Da erstarrt er, wie einst Lots Frau, zur plumpen Salzsäule und setzt reflexartig genau das voraus, was spontan alle Naivlinge immer schon zu wissen glauben: dass heilige Texte eindeutig und Gottes Verlautbarungen darin mit Händen zu greifen seien. Dabei weiss doch gerade jemand, wie Veyne (der ein hochsubtiles Buch verfasst hat zur Frage, ob „die Griechen ihre Mythen geglaubt“ hätten), dass beides nicht stimmen kann:  Keine ernst zu nehmende Religion stützt sich auf heilige Schriften, die (weil von mehreren Autoren stammend oder über längere Zeit entstanden) nicht zumindest vieldeutig, wenn nicht geradezu in sich widersprüchlich wären. Und deswegen ist das, was man im Zusammenhang mit einer heiligen Schrift  „Wort Gottes“ nennen mag, in keiner ernstzunehmenden Religion mehr, als höchstens ein sprachlicher Raum, in dem sich menschliche Erfahrungen und Fragen – primär für Gläubige der entsprechenden Religion – besonders leicht artikulieren (und manchmal auch klären) lassen. Heilige Schriften sind Wörterbücher zur Förderung der menschlichen Ausdruckfähigkeit, nicht Bedienungsanleitungen zur Handhabung des menschlichen Lebens.

            Das sieht man am Beispiel der christlichen Bibel besonders gut (über den Qoran wäre übrigens ganz ähnliches zu sagen):

1)      Die Bibel ist kein Buch, sondern eine ganze Bibliothek mit (je nach Zählmethode) 60-70 disparaten Einzelschriften, die zwischen 1100 v.Chr. und 100 n.Chr. in verschiedenen Regionen des Mittelmeerraumes entstanden sind und in verschiedensten literarischen Gattungen (Gedichten, Erzählungen, Liedern, Schulbüchern, Rechtstexten, Briefen, Novellen, historischen Romanen, wissenschaftlichen Aphorismensammlungen, Predigten, politischen Pamphleten usw.) die ganze Vielfalt des menschlichen Lebens zur Sprache bringen. Schon deswegen wäre es ein blankes Wunder, wenn sich aus einem solch chaotischen Sammelsurium von Texten eine eindeutige Göttliche Meinung zu irgendeinem Problem (heute etwa das Frauenbild, oder die Ehe oder die Homosexualität) herausdestillieren liesse.

2)      Zudem war die Schriftlektüre im Christentum nie eine einsame Tätigkeit, sondern man las von Anfang an als streitende Gemeinschaft. Durch die stete Zunahme von - häufig sehr phantasievollen - Lesern, die die Bibeltexte unvermutet auf ganz neue Probleme bezogen, entstand mit der Zeit eine Unzahl verschiedenster, sich widersprechender Lesetraditionen. Die an sich schon gewaltige Vieldeutigkeit der Bibel nahm so logischerweise nochmals gewaltig zu. Natürlich gerieten gewisse Deutungen bisweilen wieder in Vergessenheit, aber als Teil der Tradition können sie jederzeit wieder aufgegriffen werden.

3)      Die Amtskirche (Konzilien, Bischöfe, Päpste) hat sich erstaunlicherweise nur in seltenen Einzelfällen (die deswegen gleich Prominenz erlangten) in die Schriftlektüre eingemischt. Meist begnügte man sich damit, zu verhindern, dass der chaotische Flohhaufen der bibellesenden Gläubigen allzu sehr auseinanderdriftete. Dies tat man mit genau normierten Riten, mit verbindlichen, aber letztlich sehr offenen, weil symbolisch formulierten Glaubensbekenntnissen („Symbola“!) und mit der Übernahme der jeweiligen gesellschaftlich plausiblen Moral. Aus einer einzelnen Bibelstelle klare göttliche Befehle abgeleitet haben hingegen immer nur fanatische Eiferer und Sektierer.

 

So hatte das, was Veyne als verpönte Notlösung katholischer Intellektueller beschreibt («Je suppose qu’à leur insu, subconsciemment, bien des croyants se taillent un catholicisme à leur convenance et n’en conservent que le génie, la spiritualité, la fine fleur.») im Christentum seit jeher System: der private Glaube war schon immer eine persönliche Häresie!

Schon Augustinus (354-430) hatte das – wieder einmal – genau gesehen: „Wenn also einer sagt: ‚Das hat Moses so gemeint, wie ich es verstehe!‘ und ein anderer: ‚Nein, so wie ich!‘, dann ist es glaube ich, ehrfürchtiger, wenn ich sage: ‚Warum nicht beides, wenn doch beides wahr ist? Und wenn einer noch einen dritten, einen vierten und sonst einen weiteren wahren Sinn in diesen Worten findet, warum soll man diese Gedanken alle nicht auch dem Manne zutrauen, durch den der eine Gott in seiner heiligen Schrift zum Verstande der Vielen gesprochen hat, so dass bei verschiedenen Deutungen viele darin Wahres finden sollten? Jedenfalls, was mich betrifft, so erkläre ich unerschrocken: wenn ich etwas von höchster Gültigkeit zu schreiben hätte, so möchte ich es schon lieber so schreiben, dass in meinen Worten ein Echo zu finden wäre von jeder Wahrheit, die ein Einzelner zu diesem Gegenstand gefunden hätte...“ (Confessiones XII, 31)

Oder kürzer Thomas von Aquin (1224-1274): „Jede Wahrheit, die – unbeschadet der Umstände des Buchstabens – an die heilige Schrift angepasst werden kann, ist deren Sinn.“ (De potentia IV 1c: „Omnis veritas, quae, salva litterae circumstantia, potest divinae Scripturae aptari, es eius sensus“)  

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Armin (Montag, 17 August 2015 20:31)

    Dieser Text macht Lust. Lust sich als Denunziant zu versuchen oder zumindest als Provokateur im Wortsinn, der Pierre's wahre Ansicht zu Religion und Philosophie respektive Glauben und Wissen versucht zu entbergen.

    Die Aussage beeindruckt: der private Glaube war schon immer eine persönliche Häresie! Was für ein Gedanke - Privat-Häresie.

    Allerdings will jede Häresie als solche erkannt sein. Dazu braucht es ein Mass, an dem sich der private Glaube messen und so als Häresie erkennen lassen muss. Dieses Mass muss von der gleichen Art sein wie die Häresie, es muss ein Glaube sein nur eben ein rechter Glaube. Um Häresie als solche bezeichnen zu können bedarf es eines rechten Glaubens, einer Rechtgläubigkeit, eben der Orthodoxie.

    Wenn Häresie in Rede steht, gibt es ihn also den rechten Glauben und er fusst: auf dem rechten Wort Gottes, auf der rechten Auslegung, auf der rechten Tradition und was es der schönen Dinge noch mehr gibt in den diversen 'Amtskirchen' jeglicher Couleur. - Da hätten wir es also: das rechte Wort Gottes. Es ist unabdingbar, um von Häresie überhaupt reden zu können, selbst wenn es eine Privat-Häresie ist.

    Die heiligen Schriften sind also mehr als Wörterbücher. Sie bergen das göttliche Wort: manchmal als Hardcore-Offenbarung, manchmal als Schatz in irdenen Gefässen. Dieser kleine Unterschied wirkt sich dann auf die Kommunikation und den Umgang mit den Häretikern und natürlich auch mit den Häretikerinnen aus: Irrenhaus oder Scheiterhaufen - manchmal auch Gulag.

    Was ist Religion? Rechter Glaube oder Privat-Häresie? Vieleicht beides oder gar keines von beiden?

    Ein religiöser Mensch ist möglicherweise eher recht-schaffen als recht-gläubig. Weiss er denn, ob es einen Gott gibt und ob dieser seine Wörter in Wörterbüchern ablegt oder in heiligen Schriften zu Worten formt? - Die Erfahrung lehrt ihn aber, dass ein Kilo Rindfleisch eine gute Suppe ergibt. Sie zu kochen, liegt hierin die wahre Religion?

    Kann sein, dass ich ein unverbesserlicher Protestant bin? - So oder so: danke für den guten Text!