Von der verwirrenden Kunst des Weglassens

 

Die FIDS (Föderation Islamischer Dachorganisationen der Schweiz) hat am Tag nach den Attentaten von Paris in einer Pressemitteilung „diese abscheulichen und feigen terroristischen Attacken und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufs Schärfste verurteilt. Das ist beruhigend und ermutigend.

 


Nur eben: an den Anfang ihrer Mitteilung setzt die FIDS den immer wieder bemühten Satz:

 «Wer einen Menschen tötet, dann ist es als hätte er die ganze Menschheit getötet. Und wer einem Menschen das Leben rettet, dann ist es, als hätte er die ganze Menschheit gerettet.» Koran 5, Vers 32

Dieses Zitat ist beunruhigend und verwirrend und man muss sich wirklich fragen, was sich die Autoren der Mitteilung bei diesem Satz gedacht haben. Wieso?

         Als gläubige Muslime müssen die 15 unterzeichnenden Herren den Qorantext doch kennen (womöglich sogar auswendig). Also müssen sie doch wissen, dass der Satz so, wie sie ihn zitieren, nicht im Qoran steht und dass er nur deswegen so friedfertig tönt, weil man ihn immer zensuriert und zurecht schneidet. Unbeschnitten ist der Qoranvers 5,32 von den Kommentatoren schon immer als Rechtfertigung für die Tötung Andersdenkender und Anderslebender zitiert worden und er kann deshalb durchaus als Rechtfertigung der Pariser Attentate zitiert werden.

 

         In der Tat, wenn man im Koran die Stelle 5,32-34 nachliest (diese drei Verse bilden eine nicht auftrennbare Texteinheit), so kommt man schon ziemlich arg ins Sinnieren:

Als Kommentar zur eindrücklich dramatisierten Nacherzählung der biblischen Geschichte von Kain und Abel (Q 5,27-31) will V. 32 zunächst einmal erklären, wieso Kain zu guter Letzt (in V. 31) die Verwerflichkeit seiner Tat eingesehen und diese bereut hat:

„(32) Von diesem Moment (der Tötung des unschuldigen Abels) an haben wir (Gott) im Zusammenhang mit den Kindern Israels schriftlich festgehalten, dass, wenn irgendjemand einen einzelnen Menschen tötet – und zwar nicht (aus Rache für) einen Menschen  oder wegen einer Verdorbenheit auf Erden – dann ist es, wie wenn er alle Menschen getötet hätte und wenn er ihn lebendig macht, so ist es, wie wenn er alle Menschen lebendig machte. Ja wirklich, unsere Gesandten sind zu ihnen gekommen mit klaren Beweisen. Und doch: viele von ihnen waren weiterhin masslos auf Erden.“

Man merkt es schon beim ersten Durchlesen: die sehr einfühlsame und eingängige Begründung für die Verwerflichkeit der Tötung eines Menschen, die - wie es der Text ja andeutet - bereits in der Mischna (Sanhedrin IV 5) zu lesen ist, gilt im Qoran  - anders als in der jüdischen Tradition, aus der sie übernommen wird - nicht uneingeschränkt. Und just diese Einschränkungen, die in der üblichen Wiedergabe des Verses immer – auch vom FIDS - unterschlagen werden, sind nicht nebensächlich! Einmal will man sich die vendetta nicht vermiesen lassen und besonders: Menschen, die auf Erden „Verdorbenheit“ verbreiten sind offensichtlich vogelfrei. Und genau zu denen driftet das Interesse am Schluss des Verses dann auch ab. Das ist nicht erstaunlich, denn was die machen, ist für jeden Gläubigen extrem alarmierend: das Wort für „Verdorbenheit“ (fasad) weist nämlich in einen schwülen, unmoralischen Sumpf von Fäulnis, Zersetzung, Korruptheit, Lasterhaftigkeit und Dekadenz. Die folgenden Verse 33 und 34 führen dann aus, wie mit Leuten zu verfahren sei, die in diesem widergöttlichen Sumpf stecken und ihn sogar noch propagieren:

„ (33) Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandte Krieg führen und die auf Erden Verdorbenheit herumlaufen lassen, ist, dass sie getötet werden oder dass sie kreuzigt werden oder dass ihre Hände und Füsse wechselweise abgehauen werden oder dass sie aus dem Land verbannt werden. Das ist ihre Schande im Diesseits. Und im Jenseits haben sie eine gewaltige Strafe zu gewärtigen – (34) ausgenommen diejenigen, die umkehren, bevor ihr Gewalt über sie habt. Da müsst ihr wissen, dass Gott bereit ist zu verzeihen und barmherzig.“

 

Das ist der Vers, auf den man sich seit jeher stützt, um Apostaten und Islambeleidiger zu liquidieren. Und ausgerechnet das ist auch der Text, den die Verantwortlichen der FIDS vor Augen oder im Gedächtnis hatten und haben mussten, als sie die Pariser Attentate verurteilten. Was also wollten sie mit ihrem zensurierten Zitat eigentlich sagen? Es ist ja allzu offensichtlich, dass die „Verdorbenheit“, die der zitierte Vers - unzensuriert, so wie er im Qorantext steht - zum Abschuss freigibt, genau die Lebenshaltung ist, die Paris in den Augen islamistischer Fanatiker symbolisiert. Was also soll das Zitat?

Ich sehe nicht allzu viele mögliche Antworten. Entweder soll das beschnittene Zitat signalisieren: "Das ist für uns der verbindliche Sinn dieses Verses, die brutalen Einschränkungen lassen wir weg, es sind historische Entgleisungen, die für uns nicht mehr verbindlich sind." Das wäre eine reformistische, ja revolutionäre Qoranlektüre, die mir angesichts der unterzeichnenden Personen und Gruppierungen ganz unwahrscheinlich scheint. Oder aber man dachte sich: "Wir zitieren den Qoran nur ungefähr, die nichtmuslimischen Leser wird das beeindrucken und nachschlagen wird schon niemand. Und wenn strenggläubige Muslime nachfragen, können wir dann immer noch sagen, wir hätten natürlich den ganzen Vers gemeint - und ja, die verdorbenen Sumpfexistenzen seien in Paris ganz zurecht umgenietet worden." Das wäre eine listige, aber doch sehr verlogene Position, die ich den Autoren eigentlich auch nicht zutraue. Bleibt noch die Möglichkeit, dass das Qoranzitat bloss als dekorativer Firlefanz eingefügt wurde und man es damit gar nicht so ernst meinte. Wenn aber die offiziellen Vertreter der Schweizer Muslime einen Qorantext anführen, aber nicht wirklich ernst meinen, wie soll man ihnen dann abkaufen, dass sie ihre Presseerklärung als Ganze ernst gemeint haben...

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Kommentare: 2
  • #1

    Mi Zürcher (Montag, 30 November 2015 20:44)

    Lieber Pierre
    Was du "dekorativer Firlefanz" nennst, halte ich für eine der positiveren Entwicklungen der medialen Wahrnehmung bzw. des medialen Gebrauchs von Koranzitaten. Tatsächlich habe ich das zensierte Zitat wiedererkannt und als positiv konnotiert wahrgenommen. So im Sinne von "Aaah, im Koran steht mehr als nur latent hassfördernde Polemik".
    Ob nun gemeint als Firlefanz, Reformation oder Doppeldeutigkeit: Wie du so schön ausdrückst: "Nur Geduld, kommt Zeit, kommt Inhalt!".

  • #2

    Pierre Casetti (Montag, 30 November 2015 21:52)

    Hallo Mirjam!
    PR-mässig hast du natürlich recht: der kastrierte Qoran-Vers ist wirksam: er verbessert das Image des Islams, auch wenn er dabei allerhand umlügt (das ist im PR-Management courant normal). Nur: dass sich Vertreter einer Religion, der die Wahrheit weissgott nicht gleichgültig ist, diese plötzlich auf dem Altar der medialen Wahrnehmung zu opfern bereit sind und dazu noch über 130 Leichen gehen, stört mich halt doch ein wenig...